Dr. Martina Marschall (Bernried) – Beate Oehmann, 2001

M.M. Wenn Sie zusammenfassend sagen sollten, was für Sie mit dem Begriff „Kunst“ verbunden ist, was Kunst leisten sollte, was würden Sie wichtig finden?

B.O. Wichtig ist, dass das jeweilige künstlerische Produkt identisch ist mit den technischen Möglichkeiten unserer Zeit. Andy Warhol hat technisch absolut das Neueste gemacht, er hat in der Siebdrucktechnik Personen seiner Zeit verfremdet dargestellt und die Kurzlebigkeit mit einem schnellen Print-Medium umgesetzt.

M.M. Kunst hat doch noch andere Dimensionen als die rein technische, was ist mit der Persönlichkeit des Künstlers?

B.O. Das hängt ganz stark zusammen, wenn jemand ein wenig sensibel ist, dann merkt er sofort, ob der andere lügt. Es reicht nicht, wenn jemand bloß virtuos einen Rundumschlag in einer künstlerischen Technik macht.

M.M. Vor kurzem las ich in einem Aufsatz den Satz: „Kunst kommt von künden können“. Das heißt ja streng genommen, nur einer, der was zu künden hat, sollte künstlerisch tätig sein?

B.O. So weit würde ich mich nicht vorwagen, wenn man bedenkt, dass es im Handwerk Fähigkeiten und ein Beherrschen der Technik gibt. Denken Sie zum Beispiel an ein schmiedeeisernes Rokokogitter, diese Leute haben eigentlich gar nichts zu verkünden gehabt und trotzdem eine hohe künstlerische Leistung vollbracht.

M.M. Viele Menschen meinen, Kunst habe nur ästhetische Zwecke zu erfüllen, hat Kunst für Sie noch andere Dimensionen?

B.O. Kunst ist immer abhängig von ihrem sozialen Umfeld, aber ganz großen Kunstwerken kann man nicht gerecht werden, wenn man zu stark deren soziale Dimension betont. Nehmen Sie nur das großartige Bild von Pierro della Francesca in der Brera, das man natürlich soziologisch erklären kann, aber, dass es so ein großes Kunstwerk ist, ist rein bildimmanent.

M.M. Ihre Fahnen zum Beispiel, sollen die nicht noch mehr sein als rein ästhetische Gebilde? Die Fahne hat ja schon aus historischen Gründen ganz andere Bedeutungen.

B.O. Ich mache Fahnen, weil ich mich gern im Raum ausbreite. Ich will den Raum besetzen, ihn aber nur ganz kurzfristig besetzen. Im Gegensatz zur Bildhauerei, denn eine Steinskulptur bleibt meistens sehr lange an einem festen Ort installiert.

M.M. Der Ewigkeitscharakter von Kunst ist Ihnen also nicht so wichtig? Dass man sie konservieren kann, restaurieren kann?

B.O. Nein. Ich habe festgestellt, dass alle meine Materialien, alle Sachen, die ich gemacht habe, überhaupt nicht zu konservieren sind: Fahnen verschleissen, Bücher gehen beim Blättern kaputt. Komischerweise verwende ich immer unedle Materialien.

M.M. Wenn ich Ihre Fahnen sehe, muss ich an Lucio Fontana denken, weil er sich genau wie Sie nicht gescheut hat, die Leinwand zu verletzen und hineingeschlitzt hat. Bei Ihnen sind diese Windschlitze auch ein technisches Mittel, damit der Wind durch die Fahnen hindurchgehen kann. Sind sie auch gestalterisch wichtig?

B.O. Ja, auf jeden Fall, die Löcher sind Rahmen für dahinterliegende Bilder, also für ein Stück Landschaft, für einen Kirchturm, für einen Baum oder für den Ammersee.

M.M. Viele Ihrer Formen, in Fahnen, in Büchern, in Zeichnungen, haben einen erotischen Reiz, gerade die Früchte.

B.O. Das lässt sich einfach nicht vermeiden. Ich hab das nicht bemerkt, bis andere Leute mich darauf hingewiesen haben. Aber es ergibt sich auch wieder aus der Technik. Bei den Faltscherenschnitten schneide ich aus dem gefalteten Blatt zwei Blätter, und mehr oder weniger durch Zufall ergeben sich dann Formen, zum Beispiel Pflanzenstiele, die aus Kelchen herausragen. Das lässt sich eben leider nicht vermeiden.

M.M. Sie haben einmal gesagt „Ich würde gerne eine laute Stimme haben, und weil ich keine habe, mache ich diese leuchtenden großen Wandgestaltungen oder weithin sichtbare Fahnen, damit ich physisch präsenter bin“.

B.O. Ich habe immer das Gefühl, dass ich unsichtbar bin.

M.M. Aber dann sind wir wieder bei dem Phänomen, dass Kunst mehr ist als Ästhetik, dass sie Ausdruck der Persönlichkeit ist, dass sie den Witz der Persönlichkeit widerspiegelt, ihre Kritik, ihren Zynismus.

B.O. Ich habe Fahnen ganz bewusst so gemacht, dass sie etwas ganz Bestimmtes bedeuten sollen. Bei einem Wettbewerb in Zwingenberg in Hessen wurde ausgeschrieben, Entwürfe für Heimatfahnen einzureichen. Da habe ich diese ganze Symbolik – Eichenlaub, Herzerl, Festons aus den Fronleichnamsfahnen – verwendet, Troddeln unten dran genäht und festgestellt, dass ganz merkwürdige, oft auch wieder erotisch anmutende Gebilde herauskommen. Wenn man ein Herz z. B. verkehrt herum setzt, dann schaut’s eben aus wie ein Hintern, wenn ich noch dazu einen kleinen Kreis hineinsetze, dann ist’s halt ein Arschlöchlein. Eine solche Fahne habe ich einmal in einem Nobelhotel in München aufgehängt, sie sah ganz lieb aus, war auch noch weiß-blau, und jeder der genau hingesehen hat, konnte auch was anderes sehen. Das es jemals so weit kommt, das habe ich natürlich nicht ahnen können.

M.M. Kommen wir noch einmal zu Ihrer Technik zurück. Mir fällt auf, dass Sie seit einigen Jahren seriell arbeiten, in Dreierschritten: Erst fertigen Sie Skizzen im kleinen Skizzenbuch, dann arbeiten Sie im größeren Format in den Büchern und schließlich tauchen die Formen wieder in sehr großformatigen Wandgestaltungen oder eben in Fahnen auf. Warum dieser Dreierschritt?

B.O. Das ergibt sich aus der Arbeit selber, ich führe seit Jahrzehnten ein gezeichnetes Tagebuch und hier trage ich ein, was mich formal bewegt. Zumeist sind es bereits gestaltete Kunstformen, die ich zum Beispiel in Kirchen entdecke, in schmiedeeisernen Gittern und in Stuckaturen. Von solch einer Form gehe ich aus und bearbeite sie in meinem Tagebuch, überlege mir, ob sich diese Form als geeignet erweist, um in das größere Format übersetzt zu werden. Aber man darf nicht versuchen, diese kleine Form zu kopieren, man muss hergehen und wissen, was man so ungefähr will und ob diese Form dazu taugt, aus dem Arm raus mit dem Stock, an dem die Kreide befestigt ist, gezeichnet werden zu können. Beim Nähen ist es wichtig, dass man weiß, was man mit einer Form machen kann, denn man muss die Nähte formal mit einbeziehen. Oft mache ich die kleinen Entwürfe bereits so, dass ich die Stoffbreite von 150 cm der späteren Fahne bereits berücksichtige. Stoff ist ganz anders als Papier, er glänzt so oder so, je nachdem wie der Fadenverlauf ist. Und über die Erfahrung mit dem Nähen schaut der Entwurf im Skizzenbuch auch wieder anders aus.

M.M. Das ist eigentlich ein ständiges Rückwirken, vom Großen ins Kleine und wieder zurück?

B.O. Ja, und bei mir bleibt es ja nicht bei einer Fahne, ich mache Fahnenstraßen. Daneben entsteht parallel im Buch wieder eine Serie von zehn ähnlichen gezeichneten Fahnen, die rhythmisch geordnet sind, und so geht es immer weiter.

M.M. Aber der Ausgangspunkt ist immer eine Form, die Sie fasziniert, eine folkloristische Form, eine Form aus der Heraldik oder aus dem Kirchenkunsthandwerk?

B.O. Ja, diese Früchtegirlanden, die in barocken Kirchen immer wieder zu sehen sind, sind herrlich und unendlich durchspielbar: man kann sie ins Große aufblasen, dreifach setzen, stapeln, und dabei kommt jedes mal wieder etwas anderes heraus; und dann kommt das mit den „Anmutungen“. Uferlos.

M.M. Weil wir gerade beim großen Format der Fahnen sind, wie ist das mit der Größe bei den Wandgestaltungen?

B.O. Auch hier interessiert mich die große Fläche, die schwer zu bearbeiten ist, sie ist eine Herausforderung. Ich mache das mit Papier, also nicht permanent wie zum Beispiel bei der Freskotechnik. Im Buch arbeitete ich ja immer mit der ganz kleinen Fläche, manchmal nur briefmarkengroß, und wenn ich dann an die Wand denke und an meine technischen Möglichkeiten, dann gibt es ja eigentlich nichts anderes, als mehrere Blätter übereinander zu hängen. Es geht immer um aneinander gehängte Grundformate. Ausgehend von dem Modul, was im Faltscherenschnitt entstanden ist, bin ich in der Lage, riesige Wände rhythmisch zu gestalten.

M.M. Mir fällt auf, dass es über die formale Anregung hinaus immer wieder literarische Anregungen sind, die Sie reizen, sie formal umzusetzen, Gedichte von Enzensberger, von Jandl, von Goethe.

B.O. Ja, der Satz von Enzensberger aus dem Gedichtband Flechtenkunde: „Mehrere Elstern im Schnee sind ein Beweis“. Das ist so eine starke sprachliche und auch bildliche Formulierung und allein schon ein ganzes graphisches Programm.

M.M. Da tauchen einfach Bilder vor Ihnen auf. In diesem Zusammenhang fällt mir Novalis ein, der von Figuren spricht, die es überall in der Natur gibt, die zu einer großen Chiffrenschrift zu gehören scheinen. Er sagt: „Es ist alles eine große Schrift, zu der wir den Schlüssel haben“.

B.O. Jetzt sind wir in der Romantik, aber dieses strukturalistische Prinzip hat man auch in den siebziger Jahren stark verfolgt. Seriell zu arbeiten, einen Schriftcharakter herauszuarbeiten. Jandl hat das gemacht und Jiri Kolar. Ein Taubenschwarm am Himmel, eine Entenformation auf dem See sind im Grunde eine Schrift.

M.M. Was mir noch wichtig erscheint, im Zusammenhang mit Ihren Arbeiten, sind die Musterbücher, die man in der Zeit der Gotik entwickelt hat, zum Beispiel an den Bauhütten. Später haben dann William Morris in England oder auch Karl Blossfeldt mit seinen Pflanzenfotographien ähnliche Musterbücher angelegt.

B.O. Ich habe in den achtziger Jahren und auch noch Anfang der neunziger Jahre meine Bücher, das Jazz-Buch oder die Zirkusbücher, ein bisschen kokett Musterbücher genannt, aber sie sind es nicht wirklich, denn ich habe mit ihnen ganz andere Zwecke verfolgt, als es die Handwerker im Mittelalter mit ihren Musterbüchern taten. Ich treibe mich manchmal tagelang hier in den Kirchen herum und studiere das, was einmal in einem alten Musterbuch Ausgangsornament für den Stuck war. Ich schaue mir Kapitelle an, vertiefe mich in eine Kartusche, in eine Rocailleform. Wenn ich das Gesehene dann in meine persönliche Handschrift übersetze, entsteht wirklich eine Art privates Musterbuch, und aus diesen Rokokoformen werden private Formen. Ich kombiniere alles, verwandle mir alles an und übersetze es dann in meine eigene private Handschrift. Und diese Form, die dann entsteht, hat eigentlich nichts mehr mit ihrem ursprünglichen Platz zu tun und lässt verschiedene Assoziationen zu.

M.M. Kann so eine Form nicht auch banal werden? Sie haben in einem anderen Interview gesagt: „Das Umkippen in die Banalität herauszufordern oder durch einen Rest Spannung gerade noch zu vermeiden“, sei das Spannendste an Ihrer Arbeit.

B.O. Stellen Sie sich eine Pflanzenform vor, so eine flatschige, flappige Pflanzenform aus der Romanik, also eindrehende und auslappende Ornamente, oft sind noch so kleine Grotesken drin, Blattmasken: Diese Form ist relativ strapazierfähig, man kann diese Pflanzenlappen in eine persönliche Handschrift übersetzen und theoretisch immer weiter fortentwickeln, dann wird sie irgendwann so ausgelatscht und ausgeleiert und tatsächlich ganz bedeutungslos. Ein Herz ist schnell aufgearbeitet.

M.M. Wohl auch im übertragenen Sinne. Was reizt Sie so sehr daran, eine Form aufzuarbeiten?

B.O. Ich denke immer, die Formen sind ja nicht allein auf der Welt. Wenn man sie aneinanderreiht, entstehen wieder andere Zusammenhänge, wenn man sie anschneidet oder faltet, ergeben sich wieder ganz spannenden neue Sichtweisen, das interessiert mich.

M.M. Im Moment sticken Sie wieder, wie ich gerade gesehen habe?

B.O. Ich habe schon als junges Mädchen gestickt und dann als meine Kinder klein waren. Kunsthandwerkliche Stoffe haben mich immer interessiert, die fertige künstlerisch gestaltete Form. Ich hab Entwürfe gemacht, vom Sticken ausgehend, die ins Wandformat gehen. Die werden dann aber mit der Maschine gestickt mit einem ganz breiten Zickzackstich. Und jetzt habe ich das wieder ausgegraben.

M.M. Vielleicht ist es die große gestickte Wandfläche, die wir als nächstes von Ihnen sehen werden?

B.O. Vielleicht, ich weiß es noch nicht.

M.M. Neben der Fläche interessiert Sie aber auch immer der Raum?

B.O. Ja, aber ich bearbeite den Raum nicht wie ein Bildhauer. Ich empfinde den Raum sehr stark, versuche ihn durch eine Fahne zu verändern. Früher habe ich so gerne Heu gemacht beim Bauern, weil das wie ein Ballett war, ein definierter Raum, in dem eine Regie herrscht, eine Arbeitsordnung.

M.M. Gibt ein definierter Raum nicht auch Sicherheit? Eine Fläche, ein Bildgeviert künstlerisch zu „beackern“, zu gliedern, zu ordnen, zu rhythmisieren, macht innerlich ruhig, oder? Das krasse Gegenteil von Ihnen ist jemand der ganz informell arbeitet, Jackson Pollock, Action Painting. Das ist gar nicht Ihres. Und da vermute ich Ihre Sehnsucht nach Ruhe und Struktur.

B.O. Das könnte schon sein. Ich will eine definierte Fläche bearbeiten. Diese Klappbücher, die immer nach einem bestimmten Formenprinzip gestaltet werden, lassen wieder viele Variationen zu, je nachdem welche Seiten man vor- und zurückklappt. Im Prinzip ist das auch eine Erweiterung in den Raum hinein.

M.M. Das ist ein Spiel mit unendlichen Möglichkeiten, basierend auf einer strengen Ordnung und einer Formvorgabe.

B.O. Man kann aber als Profi nicht die ganze Zeit spielen, irgendwann muss man sich entscheiden, was man will, einen Dreier- oder Viererrhythmus, schwarz-weiß oder Farbe.

M.M. Bei dem Jandl-Gedicht „Jeder wünscht jedem nur das Beste“ mussten Sie sich auch entscheiden, wie Sie dieses Thema formal bewältigen. Wie war das?

B.O. Es lag nahe, wieder einen Faltscherenschnitt zu benutzen. In dem Gedicht geht es um einen Glückwunsch. Was macht man bei einem Glückwunsch? Da sind wir beim Banalen, man macht einen Blumenstrauß – eine Kreuzblume. Das wiederum erinnert sehr an den Kreuzstich beim Sticken. Eine ganz reduzierte Blumenform wird mit den Metaphern der Brutalität, die in dem Gedicht vorkommen, zum Beispiel Verletzungen, symbolisiert. Da taucht dann die Form eines angesägten Knies, oder – jetzt kommt das bayerisch folkloristische Element, das Herz-Jesu, als Votivtafel, auf. „Glückwunsch, dass der Schmerz ihn nicht zerfetzt“ heißt es bei Jandl. Und ich nehme den banalen Blumenstrauß und kombiniere ihn mit diesen brutalen Metaphern abgeschnittener Gliedmaßen. Da entsteht wieder diese Mischung aus Banalität und großer Expressivität. Und das deckt sich genau mit den Dingen, die bei uns in den Kirchen überall zu sehen sind, die bayerische Frömmigkeit mit ihrer Brutalität.

M.M. Eine andere literarische Vorlage war das Suleika-Gedicht von Goethe, aus dem westöstlichen Divan, aus dem Sie seinerzeit einen Buchzyklus geschaffen haben.

B.O. Ich habe mich damals sehr mit der islamischen Ornamentik beschäftigt, und da kommt immer wieder diese fortgesetzte Wiederholung des Schriftzuges Allah vor, „Allerschönste, Allerliebste, Allatmende, in tausend Formen magst du dich verstecken“. Im Goethe-Gedicht fand ich die gleiche rhythmisierende Ordnung, wie sie auch in der Ornamentik, in der Kalligraphie des Islam, vorkommt. Und mir ist aufgefallen, dass Goethe auch nicht von den Naturformen ausgegangen ist, sondern von der künstlerisch gestalteten Form, wenn er schreibt: „In des Kanales reinem Wellenleben“, dann ist das ja bereits gestaltetes Wellenleben.

M.M. Ich wünsche Ihnen, dass Sie noch reichlich „gestaltete Wellen“ mit Ihren Arbeiten schlagen und bedanke mich für das Gespräch.